Verlangen

vom Teufelskreis der Erwartungshaltungen

18 Jul 2009

Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen und Begierden spielen im Alltagsleben des Menschen wohl mit die bedeutendsten Rollen - leider. Freitag nachmittags hofft der Angestellte auf schönes Wetter am Wochenende - schliesslich sind das zwei freie Tage, die er so nutzen kann, wie er es will. Der unglücklich Verliebte wünscht sich nichts mehr auf der Welt, als dass seine Liebe erwidert wird und seine zerrende Sehnsucht in Zweisamkeit Erfüllung findet. Der Kranke hofft auf seine baldige Genesung, der Geschäftsführer auf einen hohen Jahresumsatz und die Älteren darauf, dass alles bald wieder so wird, wie es früher einmal war - denn da war ja alles noch in Ordnung.

Hat nicht jeder Mensch Wünsche, Hoffnungen und eigene Vorstellungen über sein Leben, und stellen nicht genau diese Wünsche und Hoffnungen die wichtigsten Antriebsfedern im Leben des Menschen dar? "Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!" rät der scheinbar Weise und schon schöpft der Mensch neue Kraft - zur Bildung neuer Wünsche und neuer Begierden. Wünsche, Begierden, Erwartungen und Hoffnungen haben eines gemeinsam. Sie gründen alle in einer Form des subjektiven Verlangens. Wünscht, hofft, erwartet und begehrt der Mensch, dann verlangt er. Welcher Art das Objekt des Verlangens ist, spielt dabei gar keine Rolle. Ob es nun scheinbar wichtige Dinge sind, wie die Erwiderung einer grossen Liebe, das baldige Genesen von einer schweren Krankheit oder der positive Verlauf des Lebens im Allgemeinen, oder ob es sich um äusserst banale Dinge handelt, wie eine staufreie Strasse auf dem Arbeitsweg, schönes Wetter am Wochenende, oder, dass die Lieblingsserie im Fernsehen nicht schon jetzt ihren endgültigen Schluss findet: Es sind alles Objekte des Verlangens. Dieses Verlangen bezieht sich dabei grundlegend niemals auf die Gegenwart, in der der Mensch eigentlich lebt. Verlangt der Mensch, dann verweist er seine Gedanken, die immer den Ursprung dieses Verlangens bilden, entweder in die Vergangenheit, um 'gute, alte Zeiten' herbeizusehnen, oder in die Zukunft, um ebenfalls bessere Zeiten, nämlich die der Erfüllung allen Verlangens ungeduldig zu erhoffen. Beide Formen des Verlangens drängen auf die gewaltsame Veränderung der scheinbar unangenehmen oder zumindest verbesserungswürdigen Gegenwart. Der Mensch zerrt gedanklich entweder längst Vergangenes oder noch nicht Geschehenes ständig in die Gegenwart, die sich ihm damit in völlig irrealer Form darstellt, weil die reale Gegenwart vom subjektiven, nichtgegenwärtigen Verlangen des Menschen überlagert wird. Dem Menschen ist es zur Gewohnheit geworden, den ohnehin recht engen Raum seines gegenwärtigen Bewusstseins mit dem irrealen Verlangen, also den Wünschen, Hoffnungen und Begierden, und dadurch mit seiner eigenen Subjektivität völlig zu durchsetzen. Die Folgen dieser 'Entgegenwärtigung' sind äusserst weitreichend: Jeder nicht erfüllte Wunsch endet in Enttäuschung, jede unerfüllte Begierde erzeugt tiefe Unzufriedenheit, und Hoffnungen, die nie in Erfüllung gehen, lassen den Menschen auf Dauer völlig verzweifeln.

Je länger und intensiver dieses falsche Verlangen dabei gedanklich genährt wurde und je länger somit falsche Gefühle erzeugt werden konnten, desto gravierender und massiver zeitigen sich die unausweichlichen Wirkungen. Psychische Unausgeglichenheit, die sich zuerst in Form einer ständigen Unzufriedenheit äussert, stellt den Anfang dieser gefährlichen Fehlentwicklung dar, die in der völligen psychischen Selbstzerstörung ihr Ende finden kann. Steigert sich der Mensch nämlich in einen Wahn des Verlangens, und erbaut er somit in sich ein irrsinniges Ungetüm sehnsüchtig verlangender Begierde, dann ist bei einer Nichterfüllung dieses Verlangens die Selbsttötung früher oder später die unausweichliche Konsequenz, denn der mächtige Wunsch und die stetig genährte Hoffnung auf Erfüllung eines irrealen und somit wirklichkeitsfremden Zieles überlagern und verdrängen in ihm schlussendlich den Lebenssinn selbst. Erst, wenn sich der betreffende Mensch der Wahrheit und damit der gegenwärtigen Realität der Tatsachen zuwendet, ist er auf dem einzig richtigen Weg aus dem tückischen Irrgarten des eigenen, kompromisslosen Verlangens. Er muss die Wahrheit 'wahr haben wollen', in Achtsamkeit auf das Tatsächliche.

Die Achtsamkeit stellt in diesem Zusammenhang tatsächlich eine Art 'Allheilmittel' dar, auch wenn solche generell und berechtigterweise mit Vorsicht zu geniessen sind. Die reine Beobachtung der Gegenwart in Achtsamkeit offenbart dem Menschen nämlich das tatsächlich Reale. Sie lässt keinen Platz für eigenes, irreales Hoffen, Wünschen, Erwarten und Begehren, sondern verweist stets auf die reale Gegenwart, die sich einem mit der Zeit als 'Aneinanderkettung unpersönlicher Vorgänge' offenbart. Die Dinge der Zukunft muss der Mensch neutral zur Gegenwart werden lassen, um sie dann sanft in die Vergangenheit entgleiten lassen zu können, ohne sie ständig in die Gegenwart zurückreissen zu wollen. In ruhiger Betrachtung der Gegenwärtigkeit wird dem Menschen bewusst, dass die ihn umgebenden Prozesse 'sowieso da sind', egal, ob er nun seine eigene Subjektivität irrig mit ihnen verbindet, oder sie einfach als das betrachtet, was sie tatsächlich sind. Das Bewusstsein des Menschen 'ruht' dann sanft auf der Umgebung, ohne selbst zerrend und drängend, wünschend und hoffend, wollend und könnend, begehrend und erwartend in aggressive Aktion zu treten und damit alles in verworrene Subjektivität zu reissen.

Eine Situation, die vielen Menschen wahrscheinlich bekannt ist, mag dies anschaulich verdeutlichen: Hofft ein Autofahrer auf einen verzögerungsfreien Weg zum Ziel, ohne Staus oder schlechten Witterungsverhältnissen, dann geschieht dieses Hoffen in zukunftsgerichtetem Irrealismus, denn es bezieht sich nicht im Mindesten auf das gegenwärtig Tatsächliche, das der erwähnte Autofahrer sowieso nicht beeinflussen kann: Entweder ist die Strasse unterwegs schneebedeckt, oder sie ist es nicht - sie richtet sich kaum nach dem innigen Wunsch des Autofahrers und seinen subjektiven Vorstellungen. Auch der eventuelle Stau auf dem Weg zum Ziel lässt sich durch das Begehren des Fahrers sicherlich nicht beeindrucken. Sollte der Stau überhaupt existieren, dann begegnet ihm der Autofahrer ja zwangsläufig - ein Hoffen, Wünschen, Bangen und Erwarten ist verschwendete Energie, denn es handelt sich um völlig unpersönliche Prozesse der Umgebung. Mit dem Festlegen des Zeitpunktes seiner Abfahrt und der endgültigen Wahl der Strecke hat der Autofahrer, vielleicht abgesehen von der Bestimmung seines Tempos, alle in seiner Macht stehenden Ursachen gelegt. Alles weitere liegt kaum in seiner Hand und ist somit auch keines einzigen Gedankens würdig. Im Gegenteil: Das Hoffen, Wünschen und ungeduldige Erwarten seiner Ankunft setzt den Autofahrer dermassen unter Druck, das er seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich bei vollem Bewusstsein das Fahrzeug zu lenken, nicht mehr gewahr werden kann. Das ‘volle Bewusstsein’ steht ihm dann auch nicht mehr zur Verfügung, denn längst haben sich die selbstkreierten Gedanken über die Strassenverhältnisse, den eventuellen Stau und den damit verbundenen Zeitdruck, den Raum seines Bewusstseins Stück für Stück erobert und es zur Subjektivität verzerrt. Der Autofahrer sollte sich auf das gegenwärtig Tatsächliche konzentrieren - in rein aufnehmender Achtsamkeit. Er muss die Eventualitäten der Zukunft, egal ob freudiger oder belastender Natur, als solche belassen und das Reale in natürlicher Gelassenheit an sich herankommen lassen. Entschwindet es ihm dann sanft zur Vergangenheit, dann braucht er dem vergangenen Realen ebenfalls keinen einzigen Gedanken mehr zu widmen, denn durch die gegenwartsgerichtete Achtsamkeit des reinen Beobachtens hat der Autofahrer dem ehemals gegenwärtigen Moment bereits alles entnommen, was für ihn von Wichtigkeit war, zum Beispiel richtungsweisende Verkehrsschilder.

Natürlich lässt sich dieses Beispiel nahezu auf jeglichen Lebensbereich übertragen. Das reine Beobachten in Achtsamkeit sollte daher dem Menschen zur Achtsamkeit im Allgemeinen werden und sich durch das beständige Einüben zur vertrauten Bewusstseinshaltung entwickeln. Denn dieses ruhige Betrachten in Gleichmütigkeit erzeugt im Menschen mit der Zeit das ausschliesslich in der Gegenwart existierende Gefühl ungekannter, wahrer Freiheit. Das reine Beobachten der Gegenwart in ständiger Achtsamkeit darf allerdings keinesfalls mit 'Gleichgültigkeit' verwechselt werden. Auch wenn die Gleichgültigkeit die Umgebung als äusserst unpersönlich betrachtet, so tut sie dies nicht in Achtsamkeit, sondern in einer gefährlichen Form der Verachtung und Verantwortungslosigkeit.

Natürlich kann und soll sich der Mensch Gedanken über seine Vergangenheit machen, allerdings nur aus rein evolutiven Gründen, beispielsweise um einen Fehler zu analysieren und somit aus ihm zu lernen - nicht aber, um in der Vergangenheit sehnsüchtig zu schwelgen und sie unendlich oft wiederzukäuen, oder sie erneut gewaltsam in die Gegenwart zu zerren. Die willentliche und evolutionsbezogene Gestaltung der Zukunft erfolgt dagegen ebenfalls in der Gegenwart, denn den zu erreichenden, zukünftigen Wirkungen müssen zuerst immer entsprechende Ursachen zu Grunde liegen - und das gedankliche Legen der Ursachen geschieht in der Gegenwart. Wird eine Ursache im tatsächlichen Wissen gelegt, dann wird ein Hoffen und Bangen um deren Wirkung völlig überflüssig, denn der Mensch weiss ja um die entsprechende Wirkung.

Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen und Begierden dürfen also keineswegs die Antriebsfedern des Menschen sein, denn sie zwingen ihn in unrealistische und damit gefährliche Denkweisen, die jeglicher logischer und somit schöpferisch-evolutiv ausgerichteter Grundlage entbehren. Auch in diesem Fall ist es nur das wahre Wissen, das dem Menschen -wie so oft- die einzig rettende Hand reicht.